Kolleg*innen mit Autismus, ADHS und anderen Neurodivergenzen nehmen die (Arbeits-)Welt oft ganz anders wahr. Welche Missverständnisse ergeben sich daraus? Und vor allem: Welche Chancen bietet dies gerade Unternehmen der Kreativbranche?
Das Interview wurde vom Hessischen Rundfunk im Rahmen des Diversity-Tags 2024 geführt.
Wer tickt denn überhaupt “normal”? Kolleg*innen mit Autismus, ADHS, Hypersensibilität oder Persönlichkeitsstörungen wie Borderline, mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie oder auch Trisomie 21 sind nicht “merkwürdig”, sondern haben schlicht besondere Bedürfnisse und Fähigkeiten.
“Das Spektrum ist riesig und bunt”, sagt Florian Malicke, selbst Autist, über Menschen, die die Welt eben nicht in der gängigen “Denknorm” wahrnehmen. Und dies betrifft 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung – ein enormes Fachkräftepotential. Malicke berät Unternehmen im Umgang mit neurodivergenten Mitarbeitenden und zeigt auf, wie man die Potentiale dieser Menschen besser nutzen kann. Und da unkonventionelles Denken und innovative Herangehensweisen in der Medienbranche geradezu überlebensnotwenig sind, haben wir Malicke eingeladen.
Starten wir mit der Spielekonsole. Du sagst, Menschen mit Neurodivergenzen und sogenannte Neurotypische, das sei wie bei der Spielekonsole: Es gibt zwei Betriebssysteme, beide können die Software abspielen, aber sie verarbeiten Daten völlig anders. Du selbst bist Autist. Wie beschreibst du deine “Datenverarbeitung”?
Florian Malicke: Das ist nicht nur andere Software, sondern auch andere Hardware. Bei autistischen Menschen ist vieles im Hirn ganz anders verknüpft. In bestimmten Situationen, vor allem in der Kommunikation, feuern bei mir andere Gehirnareale als bei neurotypischen Menschen. Wenn man das im MRT vergleichen würde, leuchten bei mir einfach andere Bereiche auf, manche vielleicht nicht ganz so hell und bunt wie bei neurotypischen Menschen.
Kannst du die unterschiedliche Wahrnehmung an Alltagssituationen veranschaulichen?
Malicke: Wenn ich am Frankfurter Bahnhof bin, ist das sehr, sehr anstrengend für mich, weil ich viel mehr Reize aufnehme und die nicht so filtern kann wie neurotypische Menschen. Da sind überall flackernde Lichter, viele visuelle und auditive Reize. Wenn ich vielleicht noch angerempelt werde, baut sich bei mir ganz schnell eine Überforderung auf. Um mich gegen diese Reize abzuschotten, habe ich meine Tools dabei: Noise-Cancelling-Kopfhörer, mein Safe Food, das mich beruhigt, oder Stimming Tools, die ich zur Stressreduktion in der Hand halten kann.
Und wenn du bei der Arbeit, wie du es nennst, „ganz im Fokus" bist?
Malicke: Konkret trifft das auf Menschen zu mit ADHS oder im autistischen Spektrum. Wir nennen das Hyperfokus. Wenn ich etwas gerne mache, einen Workshop erstellen zum Beispiel, habe ich solch einen Spaß dabei. Ich bin total fixiert, kann stundenlang davorsitzen, vergesse zu essen und zu trinken. Erst wenn ich unterzuckert zu zittern beginne, merke ich, dass ich es übertrieben habe. Wir können uns sehr gut auf Sachen fokussieren, aber der Blick ist dann ganz eng. Wenn ich in solch einer Tunnelblick-Situation angesprochen werde, kann ich auf andere patzig wirken, weil ich rausgerissen werde – was mir hinterher immer sehr leid tut.
Trotz Fachkräftemangel fallen viele neurodivergente Menschen in der Arbeitswelt durchs Raster. Warum? Wie müssen Stellenausschreibungen und Bewerbungsverfahren aussehen, damit sie sich angesprochen fühlen?
Malicke: Viele Stellenausschreibungen sind nicht barrierefrei, da muss man nicht allein an Sehbehinderungen oder anderes denken, sondern auch: Was steht da alles drin? Sind es zu viele Informationen? Oft werden die ganzen Softskills betont, Teamfähigkeit et cetera. All diese Anforderungen liest ein autistischer Mensch und sagt dann schon: “Oh, das kann ich nicht erfüllen” − und bewirbt sich nicht. Bei autistischen Menschen sind je nach Zahlenlage bis zu 90 Prozent arbeitslos. Das muss man sich mal vorstellen! Dabei sind viele sehr gut ausgebildet. Wenn wir neurodivergente Menschen es tatsächlich auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben, scheitert es häufig daran, dass es in der Belegschaft kein Verständnis gibt, auch wenn man offen mit dem Autismus umgeht. Die Person wird als komisch wahrgenommen und es kommt häufig zu Mobbingsituationen.
Dieses Wunderding in unseren Köpfen: "Da feuern bei mir ganz andere Hirnareale."
Was können Führungskräfte und Kolleg*innen für ein ideales Arbeitsfeld tun?
Malicke: Zuerst: Neurodivergenz nicht defizitär sehen, sondern auch sehen, welche Benefits ein Unternehmen davon hat: den Hyperfokus oder die sehr große Loyalität zum Unternehmen, wenn man sich denn wohlfühlt. Einfach den Menschen − allen Menschen übrigens! − ein Gefühl geben, sich im Unternehmen wohlfühlen zu können und gesehen zu werden, gerade auch mit dem, was man kann. Und dass es nicht schlimm ist, wenn jemand in der Pause nicht mit allen in der Teeküche steht, sondern die Pause allein verbringt. Dass es Räume zum Rückzug gibt, nicht nur mit einer Krankenliege, sondern Ruheräume zum Entspannen, wo man nicht angesprochen wird und man nicht doof angeguckt wird, wenn man diesen Rückzug braucht. Homeoffice ist eine wichtige Option für neurodivergenten Menschen. Viele können nicht in Großraumbüros arbeiten. Oder dass es okay ist, wenn jemand an der Bürotür klopft und man sagt: “Nein, jetzt nicht!” – was unhöflich wirken könnte. Dass es stattdessen als Signal genommen wird: “Hier darf gerade niemand rein, weil ich in einer Überlastungssituation bin.” Neurodivergente Menschen mit Autismus beispielsweise wirken manchmal in Unterhaltungen sehr sachlich oder nicht so offen. Dabei sind wir das innerlich überhaupt nicht, auch wenn es nach außen so wirkt.
Für Meetings empfiehlst du Dinge, die nicht nur neurodivergenten Menschen, sondern allen Mitarbeitenden guttun.
Malicke: Gute Stimming Tools zum In-die-Hand-Nehmen beispielsweise. Ich kenne Unternehmen, die haben bei ihren Meetings eine große Grabbelkiste für alle. Da wird niemand mehr komisch angeguckt. Auch der Fidget-Spinner stammt aus der Autismus-Community.
Andere Wahrnehmungsweisen und andere Denkstrukturen bieten Unternehmen viele Chancen. Gerade in der Medienbranche sind wir auf unkonventionelle Ideen und Kreativität angewiesen.
Malicke: Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche oder einer Rechenschwäche beispielsweise haben häufig ein sehr gutes räumliches, visuelles Denken. Viele davon sind prädestiniert, Tools, Grafiken oder Teaser zu erstellen, auch im Online-Bereich. Stichwort Kreativität: Sehr viele Menschen mit ADHS sind in der Werbung zu finden, nicht zu Unrecht. Autistische Menschen sowie Menschen mit ADHS sind sehr unkonventionell, haben häufig andere Herangehensweisen und Ideen. Häufig wird diese Unkonventionalität jedoch nicht gesehen, denn Sachen wurden “ja schon immer so gemacht”. Neueste Studien aus Amerika besagen, dass Unternehmen sowohl finanziell als auch von Arbeitsweise und Unternehmenskultur her stark profitieren, wenn sie neurodiverse Teams haben und das ganz offen leben − so dass jeder Mensch so angenommen wird, wie er ist.
Das Interview führte Nicole Kohse-Stumpf .
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